ELEKTRISCHE KUNST

                                                                             1992

                                                                        STRAFSTOSS

                                                                            FLUSS

 

Strom ist das fließende Wasser in gewaltigen Dimensionen. Früher sagte man Strom nur, wenn man vom Rhein sprach oder vom Mississippi. Ein Strom war ein großer Fluss. Es regnet in Strömen. Strom war primär sinnlich erfassbar. Dann kam die Elektrizität. Auch die fließt. Man nannte sie Strom, um sich die unsichtbare Energie, die Leiter braucht, um fließen zu können, vorstellen zu können. Strom erfährt man nur in den Endergebnissen: Hitze, Kälte, Licht, Ton, Bild, Bewegung. Strom selbst sieht man nicht.

Der alte Strom ist gefährlich, weil er reißt. Hier endet das Bild vom alten Strom; denn der neue Strom ist gefährlich, weil er stößt. Deshalb will niemand den Strom anfassen. Aber wo ein Strom ist, vermutet man auch einen Anstoß. Zumindest und zuerst den Anstoß zum Denken. Denken hat wie Elektrizität zwei Pole. Einen positiven und einen negativen: Gebrauch und Missbrauch. Was man vom Strom lernen und brauchen kann, hat der Mensch erprobt und wendet es an. Das Denken selbst - hier setzt STROM, das Video, an - ist Ergebnis elektrischer Prozesse im Hirn. Nie wäre der Mensch auf die Idee gekommen, hätte er die Elektrizität nicht entdeckt, entwickelt, gebraucht und missbraucht.

Wenn es Ströme gibt, die das Fließende zum Fließen bringen, Kombination und Koordination schaffen, müssen sie auch verantwortlich sein für das Chaos, die Umordnung und das Kranke, dessen schlimmste Form das Böse ist. Der homöopathischen Idee, das Gleich als Remedium einzusetzen, folgte der Stromstoß als wohlgemeinter Therapieversuch, ein kräftiger Stoß sollte Anstoß sein, die Ströme wieder ins rechte Bett zu lenken. Heute ist der Stromstoß als Wiederbelebungsimpuls oft lebensrettend. In der Versuchsreihe bis dahin, wanden sich die Patienten im Schock und brachen sich die Knochen.

Der negative Aspekt: Stromstoß als Strafstoß: Die Folter, der Tod auf dem elektrischen Stuhl. Der Strom als Ursache des Stillstands der Ströme.

Kirchhof  und Tröger übersetzen das in Kunst. In eine Kunst, die es ohne Strom nicht gäbe. Ihre Installation im Münchner Kunstforum tief unter dem Tageslicht brauchte Strom für künstliches Licht, die Dias im Rötgenrahmen brauchten die künstliche Beleuchtung, und das Videotape wäre undenkbar ohne die vielfache Umsetzung von elektrischer Energie in Licht und Töne. Doch was in dieser Installation praktiziert wird, ist die Nutzung des Stroms als Transportmittel. Der Schiffbauer reflektiert die Eigenschaften des Flusses, in dem er sein Konstrukt den Stromschnellen aussetzt.

Kirchhof, Tröger und Binzer bedienen sich des Stroms, um den Missbrauch des Stroms zu zeigen. Sie nutzen die Mittel des Films, des Fernsehens, der vereinfachten Computersprache und der Logokommunikation: Neil Portmans “Wir amüsieren uns zu Tode” liegt warnend nahe, läge nicht jenes Brechtsche Prinzip der Verfremdung bereit, das dem Betrachter die Möglichkeit belässt, den Hut auf dem Kopf zubehalten. Was im reißenden Strom der Bilderflut aussieht wie ein Videoclip, wird in der kühlen Präsentation des Kunstzusammenhanges zum emotionalen Anstoß. Je grauenhafter die dargestellten Tatsachen sind, desto kürzer sind sie geschnitten, desto denkanstößiger wird das Anstößige durch Phantasie und Erfahrung ergänzt. Die Hirnströme werden aktiviert, das Angestoßene zu komplettieren und zu kanalisieren.

(Der Kanal als moderner Strom. Der Bilderstrom der elektronischen Sintflut des Fernsehens kommt schließlich auch in Kanälen zu uns).

Die elektronische Bilderflut kann dennoch keine Folter, auch keine Schocktherapie sein, weil sie im Sinne des neuen Stroms nicht stößt, sondern im alten Sinne fließt. Konsequenterweise verweist die Videoinstallation STROM auf die disziplinierteste Form der Kreativität, das Tanztheater in der japanischen Variante des Butoh. Hier werden die Hirnströme im Sinne neuerer Chaosforschung in die Bahne der assoziativen Kreativität gelenkt, um wenn möglich in einer menschlichen Form der Kunst den Strom des Lebens in visueller Weise auszudrücken. Alles fließt. Der Fluss als die menschliche Dimension des Stroms.

Wolfgang Längsfeld