Über das Verschwinden 
Wortgefährten zu den Fotoarbeiten von Silvia Kirchhof

Von Susanne Niemann

Was hab ich,
wenn ich nicht Alles habe, sprach der Jüngling.
Indem sie einst so sprachen, standen sie
in einer einsamen Rotonde still,
wo ein verschleiert Bild von Riesengröße
dem Jüngling in die Augen fiel.

Verwundert blickt er, spricht: „Was ists,
das hinter diesem Schleier sich verbirgt?“

(Friedrich Schiller, Das verschleierte Bild zu Sais)

>Verschleiert< fühlt sich diese Ausstellung von überarbeiteten Fotografien von Silvia Kirchhof an. Ein schwerer, weißer Schleier, nein: ein leichter, weißer Schleier, nein: doch deutlich schwerer, doch! Deutlich leichter, die weiße Farbe, der Farbweißschleier einer unsichtbar geführten Hand: Das Foto, die ursprünglichen Aufnahmen, am Verschwinden. Wir möchten an die Unschuldsvermutung des Weißen glauben, wir wollen die Farbschlieren stoppen, abwaschen, herunterkratzen, wir bedauern die Menschen, die schauenden Gesichter, die lächelnden Münder, den knarzenden Stacheldraht, die Sehnsuchtsschiffe, die menschenleeren Autos, die wimmelnden Bienen, die Eisbären - lasiert zu werden. Wir möchten sie befreien. Denn: Was ist es, das sich unter der Farbe… ja bewegt? Die Reihung der vielen Arbeiten hier: ein froher, ein freundlicher Friedhof ohne jene Friedhofstrauer, eine andere Trauer. Es geht um Schmerzen, um eine Schmerzgrenze. Was wir sehen ist eine Gegenrezeptur für unser Zeitalter des Vergessens. Verschwindendes festhalten? 

Verwundert blickt er, spricht: „Was ists,
das hinter diesem Schleier sich verbirgt?“

“Die Wahrheit“ ist die Antwort.

59 Überarbeitungen, Übermalungen, Doppelbelichtungen unternimmt Silvia Kirchhof in ihrer aktuellen Serie „Über das Verschwinden“: Bilder aus den Jahren 1950 bis 1970 oder hoch aktuelle aus privaten oder öffentlichen Archiven hat sie ausgewählt und anschließend mit Acrylfarbe lasierend oder auch deckend mit Lackfarben übermalt. Eine interessante Variante des Verblassens, der Verflüchtigung, des Verschwindens. Oder! Halt: Liegt darin nicht gerade eine Art Wiedererweckung? Wir glauben immer, mit uns, ja mit mir, beginnt die Zeit neu, lässt „Altes“ „alt“, vorgestrig, überholt aussehen. Menschen können sehr mächtig sein, Gegenstände können sehr mächtig sein, die Natur ist sehr mächtig. Es gibt diese Kartons, in denen Menschen Dinge, Briefe, Fotografien sammeln, die eigentlich nur Referenzen der eigenen Geschichte sind. Referenzen von Geschichten, die sich aber ewiglich fortschreiben. Und wir, wir treten nur ein in diesen weiten Flur, diesen endlosen Fluss:Die Welt- und die Kulturgeschichte ist ein einziges Kommen und Gehen. Wir versuchen stets, sekündlich, minütlich, jetzt: ich, der Zeit meinen Stempel aufzudrücken. Aber die ewigliche Welt und Erde ist ein unentrinnbares Archiv unserer selbst, das wir stets zu domestizieren versuchen, zu überschreiben versuchen, wider die forschenden Historiker*innen und Bewahrer*innen und Mahner*innen. Das ist wahr – sage ich und stimme mit der Künstlerin ein, dass das Verschwinden ein zeitloses Thema ist und doch etwas, das mit der Zeit immer wieder in Vergessenheit gerät. Menschen verschwinden, immer wieder und überall. Ob Flüchtlinge auf hoher See oder einzelne Personen in unserer scheinbar sicheren Welt. Sie sind schnell vergessen. Aber wahr ist, dass sie gewesen sind, wahr ist, dass sie Gerüche, Bilder, Sätze, Mahnungen und Geistvolles hinterlassen haben. Dies gilt es immer wieder zu beschwören, wie es Silvia Kirchhof tut. Schon beim Betreten der Ausstellungsräume hier im Dachauer Wasserturm riechen wir das Getriebe der Überschreibung, der up-dates, die Walze des jäh Getriebenen von jenem Weiter, das platt macht. Die Welt ist ein Kommen und Gehen – das wissen wir. Silvia Kirchhof beschäftigt sich mit dem Untergang, das Gehen ist schon passiert. Schauen wir hin: Alles, was hier ist, ist das, was ist und bleibt. Da-sein heißt immer da sein.

Wie? ruft jener,
nach Wahrheit streb ich ja allein, und diese
gerade ist es, die man mir verhüllt?

Kein Sterblicher, so sagt die Gottheit,
rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.
Und wer 
den heiligen, verbotnen früher hebt,
der, spricht die Gottheit –

Nun?

„Der sieht die Wahrheit.“

Silvia Kirchhof ist auf die Suche gegangen: alte Fotos des Vaters aus der Türkei zur Zeit von Atatürk, einer Zeit des Aufbruchs, eigene Fotos, aufgenommen in Marokko, Aufnahmen der Natur, Tiere, Gesichter, zahlreiche Aufnahmen von Menschen. 

 

 

Gesichter, die uns unverzeihlich unerschrocken seinstraurig anschauen oder in ihrer Doppelbelichtung bzw. –beleuchtung gänzlich zu verschwimmen beginnen. 

Schauen wir in dieses Kindergesicht. Ich muss dabei an den „Engel der Geschichte“ von Walter Benjamin denken, der schrieb: „Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind aufgespannt.“Dieses Kind: Worauf sieht es? Die Augen - nicht aufgerissen, nur stechend in mein Augengewitter blickend, der Mund steht nicht offen, setzt nur zum Öffnen an, die Flügel sind nicht gespannt, nur imaginär gedacht. Und dennoch spüren wir das Zurückweichen, ein kleiner Werden, obwohl es doch wachsen und groß werden will und soll.

Schauen wir in diese beiden Gesichter. Sie schauen uns bestimmt an, aber auch schüchtern. Sie schauen respektvoll und sich selbst akzeptierend. Sie lösen Schwindelgefühle aus, weil sie fest und unbeirrt durch uns hindurch blicken und uns gewachsen sind. Wie eine schöne Landschaft sind sie uns zugänglich mit ihren hellen Augen. Ob sie das Alter als grausam empfinden? Es kommt mir Rilke in den Sinn, der als Grabschrift für sich selbst bestimmte: „Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, / Niemandes Schlaf zu sein unter so viel / Lidern.“ Ganz anders diese beiden Antlitze, absolut nicht schläfrig, sondern hell und durchdringend. Aber: Dennoch: Das Zwischenland zwischen noch hier und dann – wohin? Schleicht sich an und wird kommen – unerwartet-erwartet – mit viel Schlaf unter den Lidern und abfallendem Echo: Was war? Wer? Wer war ich?

Gesicht.

Schauen wir in dieses Gesicht. 

Es ist das Lächeln der Sehnsucht. Im Handwerk des Lebens gelächelt, „Da bist du“ könnte sich diese Person sagen, mit der Lust zu existieren, mit Lust und Freude auf Illusionen und Visionen. Dieser Mensch hat gelebt oder lebt – wir wissen es nicht. Er wurde für uns sichtbar gemacht! Was für ein Geschenk! 

„Der sieht die Wahrheit!“ Wenn von der Wahrheit
nur diese dünne Scheidewand mich trennte …

Wir stehen am Stacheldraht und blicken in das zärtliche Gesicht.„Erzählen ist etwas anderes als Information“. Dieser Satz von Alexander Kluge ist klug. Silvia Kirchhof führt uns fotoessayistisch-erzählerisch mitfühlend bestimmt ohne dramatische Anklage an diesen Stacheldraht und an dieses Gesicht. Das Begehren, der Wunsch, die Sehnsucht dieses Schauens ist uns klar und nah. „Das Schwierige ist nicht, den Ursprung zu finden, sondern ihn zu erkennen“, schreibt Judith Schalansky in ihrem Buch „Verzeichnis einiger Verluste“. Haben wir den Ursprung des Blickes dieses jungen Menschen gefunden? Ja, natürlich, wir wissen um die verklammerte Not, doch können, doch wollen wir sie erkennen? Die Künstlerin legt einen Hauch, ein verwehendes Strömen über dieses hemmungslos forttreibende Verlorengehen, dieses unsichtbar werden. Wir könnten in diesem Moment in das Leben dieses – oder eines anderen Menschen eingreifen, aber wir wissen oft erst danach, einfach später, oft zu spät, was wir wirklich hätten tun können. Wenn die Dinge weg sind, wenn die Zeit vorbei ist. Wissen wir, was wir verloren haben? Eine dünne Scheidewand, ein lebensentscheidender Maschendraht, heute in schmerzender Berührung, morgen? Eine  Lethargie und Hemmung – sie legt sich über uns. 

 
Gewichtiger mein Sohn als du es meynst
Ist dieser dünne Flor – Für deine Hand
zwar leicht, doch Zentner schwer für dein Gewissen

Silvia Kirchhof will uns zeigen, was wir untergehen lassen, was wir verstummen lassen, was wir versäumen. Die ausgestellten Arbeiten zeigen die unerschöpfliche Vielfalt dessen, aus dem unser ganzes Sein bestand, besteht und bestehen wird. Alles und jedes darf nicht vergessen werden. Wie jedem Geschehen, jedem Menschen, jedem Tier, wie auch der Natur gerecht werden? Wir sehen hier Silvia Kirchhofs Fundstücke von unzählig Vielfachen, die im Laufe der Jahrhunderte verschwunden sind und weiter verschwinden werden. Vielleicht beginnen wir, über die eigenen Verluste nachzudenken, stärker, intensiver, nachzudenken. Aber auch gelassener, versöhnlicher, denn „am Leben zu sein bedeutet, Verluste zu erfahren.“ Immer. Dazu lädt diese Ausstellung ein. Heben wir den Schleier! Wann immer wir können. Denn: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar – so Ingeborg Bachmann. Die Wahrheit ist total – so Silvia Kirchhof. Vielen Dank!